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Studie der Bertelsmann-Stiftung Deutschlands Schulsystem gibt Kindern wenig Chancen

Deutschlands Schulen bieten kaum Möglichkeiten für einen Aufstieg. Der Lernerfolg eines Kindes wird weiterhin von der sozialen Herkunft der Eltern geprägt. Das zeigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die alle 16 Bundesländer verglichen hat.
Erstklässler (Archivbild): Elternhaus entscheidet schon über frühe Erfolge

Erstklässler (Archivbild): Elternhaus entscheidet schon über frühe Erfolge

Foto: Frank Leonhardt/ picture alliance / dpa

Hamburg/Berlin - Das deutsche Schulsystem ist ungerecht, schon lange. Es wurde kritisiert, schon oft. Und es ist noch immer ungerecht. Die Verantwortlichen ändern es nicht. Die soziale Herkunft der Eltern bestimmt weiterhin wesentlich den Schulerfolg des Kindes. Das zeigt der zweite Chancenspiegel über die Leistungen und Schwächen der Schulsysteme in den 16 Bundesländern, den die Bertelsmann Stiftung am Montag in Berlin vorlegte.

"Insgesamt geht es mit der Chancengerechtigkeit eher im Schneckentempo voran", sagt Jörg Dräger. Die Bertelsmann Stiftung, deren Vorstand Dräger ist, ermittelt zusammen mit den Universitäten Dortmund und Jena , wie gerecht und leistungsstark die unterschiedlichen Schulsysteme in Deutschland sind. Die aktuellen Zahlen zeigen, was sich diesbezüglich seit den alarmierenden Ergebnissen aus dem Schuljahr 2009/10 sowie seit Pisa und Iglu verändert hat.

Wie groß die Chancen für deutsche Schüler sind, soziale Nachteile zu überwinden und Potentiale zu nutzen, zeigt der Chancenspiegel anhand von vier Kategorien: Durchlässigkeit (Aufstiege und Abstiege), Kompetenzförderung, Zertifikatsvergabe (Schulabschlüsse) und Integrationskraft (Gemeinsames Lernen). Das Ergebnis: Was 2009/2010 mies war, ist auch 2011/2012 noch schlecht (siehe Grafik unten).

Um Chancengleichheit für Kinder aller sozialen Schichten zu garantieren, müssten die Länder in allen Kategorien gut abschneiden. Da das aber bei keinem Bundesland der Fall ist, bleibt das Schulsystem in Deutschland im Prinzip ungerecht. Wer aus einem unteren sozialen Milieu stammt, hat wenig Chancen auf Aufstieg.

13 Prozent brechen in Mecklenburg-Vorpommern die Schule ab

Besonders auffällig sind die enormen Unterschiede in den Bundesländern. Ein paar Beispiele: In Mecklenburg-Vorpommern brechen mit einer Quote von 13,3 Prozent fast dreimal so viele Jugendliche die Schule ab wie im Saarland (4,8 Prozent). In Sachsen-Anhalt erreichen nicht einmal 37 Prozent die Berechtigung zu studieren, in Nordrhein-Westfalen sind es 59,1 Prozent.

In anderen Punkten schneiden die neuen Bundesländer jedoch besser ab als die alten Länder: So ist in Sachsen der Abstand zwischen Schülern oberer und unterer Sozialschichten nur etwa halb so groß wie in Bayern. Und in Brandenburg kommen auf einen schulischen Aufstieg (Wechsel von einer niedrigeren Schulform auf eine höhere) nur 1,8 Abstiege - in Bremen liegt das Verhältnis bei 1 zu 9,8. Das Risiko, in der Mittelstufe in eine niedrigere Schulart wechseln zu müssen, ist im Durchschnitt in Berlin, Bremen, Hessen und Niedersachsen viermal so hoch wie in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Betrachtet man alle Kategorien zusammen, schneidet allerdings kein Land überall nur gut oder nur schlecht ab. "Die Bundesländer haben jeweils Stärken und Schwächen, alle haben Nachholbedarf", sagt Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund.

Einige Ergebnisse im Vergleich:

  • Durchlässigkeit: Noch immer steigen viel mehr Schüler ab als auf. Auf einen Aufstieg, also einen Wechsel von einer niedrigeren Schulart zu einer höheren, kommen 4,2 Abstiege. Im ersten Bericht waren es 4,3. Kein Bundesland verzeichnet mehr Aufwärts- als Abwärtswechsel.
  • Der schon häufig bemängelte Kompetenzerwerb kann sich auch noch immer nicht sehen lassen. Das Leseverständnis der Grundschüler bewegt sich auf nahezu demselben Niveau der Iglu-Studie vor zehn Jahren - und ist weiterhin stark abhängig von der sozialen Herkunft: Damals wie heute liegen die Kinder aus niedrigen Sozialschichten bei der Lesekompetenz durchschnittlich um ein Jahr zurück.
  • Bei der Zertifikatsvergabe, also den Schulabschlüssen, gibt es zumindest eine positive Tendenz: Weniger junge Menschen verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Anteil der Schulabbrecher sank von 6,9 auf 6,2 Prozent. In demselben Jahr (2011) verzeichnete Deutschland zudem die höchste Quote an Schulabgängern mit Hochschulreife - mehr als jeder Zweite (51,1 Prozent) verließ die Schule mit der Möglichkeit zu studieren. 2012 allerdings sank diese Zahl wieder auf knapp 500.000, was aber immer noch vergleichsweise hoch ist.
  • Die Integration von Kindern mit Förderbedarf lahmt ebenfalls. Jedes vierte dieser Kinder besucht zwar mittlerweile eine reguläre Schule, die Bedeutung der Förderschulen verringert sich aber nur langsam: Der Anteil der Schüler, die separat auf gesonderten Schulen unterrichtet werden, sank seit dem Schuljahr 2009/10 nur geringfügig von 5,0 auf 4,8 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil von Kindern in Ganztagsschulen nur von 26,9 auf 28,1 Prozent. Knapp 13 Prozent aller Schüler besuchen gebundene, also für alle Schüler verpflichtende, Ganztagsschulen.

Wenn der Ausbau der Ganztagsschulen in diesem Tempo weitergeht, dauert es laut Dräger noch mehr als 50 Jahre, bis für alle Kinder genug Plätze vorhanden sind. "Dabei bietet gerade die gebundene Ganztagsschule gute Möglichkeiten, den Einfluss der sozialen Herkunft zu verringern."