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"Snowden": Plädoyer für einen Whistleblower

Foto: Willy Sanjuan/ AP

Oliver Stone über den Fall Snowden "Alle halten das Maul, wie in Nazi-Deutschland"

Zum Start seines Politthrillers "Snowden" wettert Oliver Stone gegen die US-Politik. Seine schrille Forderung: Die Verantwortlichen im Whistleblower-Fall sollten vor Gericht, wie einst die Nazis bei den Nürnberger Prozessen.
Zur Person

Oliver Stone, 70, ist einer der wichtigsten politischen Regisseure Hollywoods. In Filmen wie "Platoon" (1986), "JFK - Tatort Dallas" (1991), "Nixon" (1995) oder "World Trade Center" (2006) hat er immer wieder zeitgeschichtliche Themen verhandelt - und dabei einen zunehmend kritischen Blick auf die jeweiligen US-Regierungen geworfen.

SPIEGEL ONLINE: Mr. Stone, in den USA wird Edward Snowden als Verräter verdammt, in Europa als Held gefeiert. Wie macht man einen Film, der hier wie dort funktioniert?

Stone: Indem man nah bei der Wahrheit bleibt. Und die Wahrheit ist: Snowden liebt sein Land, aber er ist der festen Überzeugung, dass gegen die Verfassung nicht verstoßen werden darf. Er beging ein Verbrechen, um ein noch größeres Verbrechen zu verhindern. Dafür hat er sein Leben aufgegeben. Metaphorisch gesprochen ist er gestorben, als er zum Whistleblower wurde. Alles, was er sich für seine Zukunft vorgestellt hatte, war in dem Moment vorbei.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Snowden getroffen?

Stone: Ja. Mein Co-Autor Kieran Fitzgerald, unser Produzent Moritz Borman und ich waren acht- oder neunmal in Moskau und haben Snowden dort besucht. Wir waren beeindruckt von seiner Klarheit, seiner Entschlossenheit, seiner Hingabe.

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SPIEGEL ONLINE: Kein Nerd?

Stone: Doch, auch. Er hat wenige soziale Kontakte, soweit ich das überblicken kann. Sein Leben findet großteils im Kopf statt. Seine Freundin ist zu ihm nach Moskau gezogen, sie ist seine Brücke zur menschlichen Welt. Für die meisten Leute ist Snowden nur eine abstrakte Größe. Wenn er im Fernsehen auftaucht, mögen sie ihn nicht. Er hat nicht diesen human touch, der ihn sympathisch macht.

SPIEGEL ONLINE: Ist seine außergewöhnliche Intelligenz einer der Gründe, warum ihm so viele Amerikaner misstrauen?

Stone: Auf jeden Fall. Sie haben bei seinen Auftritten das Gefühl, er spiele ihnen etwas vor, zeige nicht sein wahres Gesicht. Ich hatte immer das Gefühl, das Snowden er selbst ist, authentisch. Die meisten Europäer haben das auch so gesehen. Doch Amerika ist ein seltsames Land, da laufen die Dinge anders, als man glaubt. Dieses Land ist völlig unberechenbar.

SPIEGEL ONLINE: Bei der Innovationskonferenz TED im März 2014 in Vancouver war Snowden nur per Video zugeschaltet und bannte die Zuschauer, obwohl er viele Tausend Kilometer entfernt war. Ist er ein talentierter Performer?

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Stone: Er ist ein Autodidakt, der die Leute dazu bringen kann, ihm zuzuhören. Aber er steht bestimmt nicht vor dem Spiegel und übt. Er redet so, wie er denkt, und seine Gedanken sind klar. Ein Performer? Ich weiß nicht.

SPIEGEL ONLINE: Die Fähigkeit, sich selbst darzustellen, ist schon verblüffend.

Stone: Keine Frage, vor allem für sein Alter. Er war keine 30, als die ganze Sache losging. Ich hätte das in dem Alter nicht gekonnt, ich hätte nicht den Mut gehabt, es mit den westlichen Geheimdiensten aufzunehmen. Snowden wusste, was auf ihn zukommt, er hatte gesehen, was mit Chelsea Manning passiert war. Ed kannte das Spiel und wusste, dass es schmutzig werden würde. Aber er hat nie die Nerven verloren. Das ist vielleicht seine größte Stärke.

SPIEGEL ONLINE: Manning ist klein und schmächtig, Snowden sieht noch heute aus wie ein Teenager. War diese Unscheinbarkeit für die beiden die beste Tarnung?

Stone: Wer Snowden sieht, mag kaum glauben, dass er Zugang zu Informationen von hoher Geheimhaltungsstufe hatte. Aber ist es nicht viel überraschender, dass bei der NSA rund 40.000 Leute arbeiten, die wissen, dass sie am Rande oder jenseits der Legalität arbeiten, und keiner sagt was? Das nenne ich eine richtige Verschwörung. Alle halten das Maul, weil sie ihr Haus abbezahlen und ihren Kindern Alimente zahlen müssen. Das ist wie in Nazi-Deutschland.

SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen kennen Snowden als sprechenden Kopf aus dem Fernsehen. Wollen Sie in Ihrem Film den Menschen dahinter zeigen?

Stone: Die Liebesbeziehung zwischen ihm und Lindsay Mills war für mich ein Schlüssel zu diesem Film. Man spürt, wie sich ihre Beziehung unter dem Druck verändert, wie beide in diesem Prozess reifen. Irgendwann fragt sie ihn: "Warum müssen wir uns verstecken?" Er weiß es, aber er kann es ihr nicht sagen. Sie glaubt, dass sie nichts zu verbergen hat, erkennt aber im Laufe des Films, dass es nicht so ist. Wir brauchen eine Privatsphäre, um unsere Seele zu schützen.

SPIEGEL ONLINE: Man spürt in dem Film, wie sehr es Snowden belastet, seine Geheimnisse nicht mit seiner Freundin teilen zu können.

Stone: Ja, er will sie nicht in Gefahr bringen. Er kapselt sich ein, um sie zu schützen. Bei den Previews hat das viele Zuschauer sehr berührt. Zu sehen, dass dieser Mann aus Fleisch und Blut ist.

SPIEGEL ONLINE: Gab es in den USA Previews?

Stone: Ja, im ganzen Land. Vor gemischtem Publikum, Frauen, Männer, Schwarze, Weiße, Jüngere, Ältere.

SPIEGEL ONLINE: Was werden Trump-Anhänger von dem Film halten?

Stone: Ich hoffe, sie sehen Snowden danach mit anderen Augen.

SPIEGEL ONLINE: Kann der Film das Bild von Snowden in den USA verändern?

Stone: So oder so wird der Film die Wahrnehmung von Snowden verändern. Ob dies dazu führen wird, dass man ihn begnadigt, bezweifle ich allerdings. Die Wirkung von Filmen auf die Zuschauer ist immer nur von kurzer Dauer.

SPIEGEL ONLINE: Wie wird Amerika in 20 Jahren auf Snowden blicken?

Stone: Hoffentlich weitaus differenzierter als heute. Ich würde mir wünschen, dass er eine Autobiografie schreibt, in der er seine Sicht der Dinge darlegt. Das Buch wäre ein riesiger Erfolg.

SPIEGEL ONLINE: Ist Snowden inzwischen ein Freund von Ihnen?

Stone: Nein, aber ich bewundere ihn.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es ihm?

Stone: Er macht einen stabilen Eindruck. Er arbeitet hart und erlegt sich einen strengen, straffen Zeitplan auf. Scheint nicht viel Leerlauf zu geben.

SPIEGEL ONLINE: Hat er den Film schon gesehen?

Stone: Ja, er gefällt ihm.

SPIEGEL ONLINE: Ist er in Ihren Augen ein Patriot?

Stone: Von Kopf bis Fuß. Ich sehe ihn in der Tradition von Männern wie Henry David Thoreau, der im 19. Jahrhundert zum zivilen Ungehorsam aufrief, oder wie Martin Luther King, der vorsätzlich gegen die Rassengesetze verstieß.

SPIEGEL ONLINE: Der deutsche Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hat vor einigen Monaten gesagt, Snowden sei möglicherweise ein russischer Spion.

Stone: Verrückt. Für all diese Behauptungen, dass Snowden Geheimnisse an die Chinesen verraten und westliche Agenten in Gefahr gebracht haben soll, gibt es keine Beweise. Im Gegenteil, viele der Leute, die das behaupten, sind als Lügner schon lange überführt und gehören gefeuert oder ins Gefängnis. James Clapper, Michael Hayden, diese ganze Geheimdienst-Bagage. Von Bush und Cheney ganz zu schweigen. Der Sinn für Moral ist durch sie völlig auf den Hund gekommen. Gegen all diese Leute hätte es Nürnberger Prozesse geben müssen.

SPIEGEL ONLINE: Zu Beginn seiner ersten Amtszeit versprach Barack Obama Transparenz und Aufklärung. Dann schuf er das umfassendste Überwachungssystem der Geschichte. Ist er auch ein Lügner?

Stone: Obama hat Geld von der Wall Street genommen, um seinen Wahlkampf zu finanzieren. Er hat seine Gegner nicht bekämpft, sondern sie mit ins Boot geholt. Er hat sein Kabinett mit Leuten wie Robert Gates besetzt, Bushs Verteidigungsminister, oder Hillary Clinton, einer Neokonservativen, einer Hardlinerin.

SPIEGEL ONLINE: Obama war nur schlecht beraten?

Stone: Irgendwann steckst du drin in dieser Blase, ständig flüstern dir diese Leute ein, was du tun sollst, bis du es am Ende selbst glaubst. Du kriegst eine Liste mit Namen, jemand sagt dir: "Das sind Terroristen, die müssen wir liquidieren." Die pumpen dich von morgens bis abends mit Bullshit voll. Aber wie kannst du jemandem wie John Brennan auch nur ein Wort glauben? Wie kannst du ihn zum CIA-Chef machen? Obama hat den Wandel versprochen, aber genau da weitergemacht, wo die Republikaner aufgehört hatten. Er ist anständiger Kerl, ein guter Vater, ja. Aber ein anständiger Kerl bringt's nicht, du musst kämpfen.

SPIEGEL ONLINE: Warum spielt die Überwachung im US-Wahlkampf so gut wie keine Rolle?

Stone: Der Krieg spielt ja auch keine Rolle, obwohl wir gerade gegen einige muslimische Länder militärisch vorgehen. Der Verteidigungshaushalt steht ebenfalls nicht zur Debatte. Landauf, landab herrscht militärisch-industrielle Glückseligkeit. Das ist alles völlig korrupt. Die immer gleichen Leute schieben sich Posten zu und schaufeln sich gegenseitig Geld in die Taschen. We're fucked.

SPIEGEL ONLINE: Sie klingen sehr pessimistisch.

Stone: Die USA werden prosperieren, solange wir eine Konsumgesellschaft bleiben. Das System regeneriert sich immer wieder selbst. Die Freihandelsverträge sollen dafür sorgen, dass sich unser System über den ganzen Globus ausdehnt. In den USA wird es nie einen Aufstand geben, wir werden die Armen immer gerade so am Leben halten. Niemand wird verhungern. Aber unsere Werte gehen den Bach runter, wir führen Kriege, verbreiten Gewalt und Unbarmherzigkeit.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind ein vehementer Gegner von Hillary Clinton. Wählen Sie Trump?

Stone: Ich weiß nicht, ob ich überhaupt wählen gehe. Die Umfragen werden uns schon vorher sagen, wer gewinnen wird. Und wir werden ein Überwachungsstaat bleiben, ob Clinton an die Macht kommt oder Trump. Trump hat die Todesstrafe für Snowden gefordert. Welche Hoffnung soll ich haben? Die Menschen wissen zu wenig, weil sie in Unwissenheit gehalten werden. Demokratie funktioniert nicht.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben Clinton als Kandidatin der Wall Street bezeichnet. Heißt das, Trump ist der Kandidat des Volkes?

Stone: Nein, er repräsentiert eine kleine, weiße Minderheit. Viele von denen fühlen sich bedroht, von Feministinnen, von Schwarzen, Mexikanern. Trump führt eine komplett destruktive Kampagne.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie noch eine Vision für Ihr Land?

Stone: Eine Vision? Uff. Vielleicht die: Wir brauchen einen Gorbatschow, eine Perestroika. Gorbatschow hatte nicht vor, den Kommunismus zu zerstören, doch indem er ihn infrage gestellt hat, hat er seine Auflösung befördert.

SPIEGEL ONLINE: Wie sieht die Zukunft des Internets aus?

Stone: Hat es noch eine? Wenn sich im Internet eine Meinung verbreitet, die den Regierenden nicht genehm ist, wird der große Schlüssel umgedreht, und dann ist es vorbei mit der Freiheit. So sieht die Zukunft des Internets aus. Wenn Clinton einen Krieg führen will, die Menschen in den sozialen Netzwerken aber Frieden fordern, wird sie da tatenlos zusehen? Sie wird sagen: Diese Proteste gefährden unsere Demokratie, unsere Sicherheit. Das ist der nächste Schritt.

SPIEGEL ONLINE: Kann jemand wie Snowden die Menschen nicht inspirieren?

Stone: Klar doch. Aber es wird nichts daran ändern, dass wir uns auf einen Faschismus zubewegen, einen gutmütigen Faschismus, der uns alle durch Konsum einlullt. Der uns ständig manipuliert, der uns mal gezielt Angst einjagt und dann wieder beruhigt, der alle Daten über uns sammelt und uns besser kennt, als wir uns selbst kennen. Der immer weitere Kreise zieht, damit er auch den Russen oder den Iranern all das verkaufen kann, was er ihnen verkaufen will, inklusive eines Gefühls von Behaglichkeit. Eine riesige Blase, die sich immer weiter ausdehnt.

SPIEGEL ONLINE: Fühlen Sie sich noch als Amerikaner? Oder als Weltbürger?

Stone: Als Weltbürger. Aber in einer guten Welt. Nicht in einer Tyrannei.